[2004-10-06] 
 

(Ent)gleitende Wortstücke


Sie hatten eine halbe Stunde, also machten sie dort oben, im 38. Stock des bläulich leuchtenden Hochhauses der Vereinten Nationen am East River,
eine Weltreise in 30 Minuten. Iran: „Ich hoffe, es gibt keine Eskalation, ich bin besorgt“, sagte Annan; „ich teile die Besorgnis“, die Regierung Irans verkalkuliere sich, sagte Fischer. Sudan: „Wir unterstützen die Afrikanische Union bei ihren Bemühungen, die Regierung muss die Verhandlungen in Kenia fortführen und die Milizen entwaffnen und die Flüchtlinge schützen“, sagte Annan; „das entspricht genau unserer Position“, sagte Fischer. Irak und Naher Osten: welch Gefahren! Afghanistan: Erfolge! Schließlich Kosovo: „es gibt keine Fortschritte ohne Stabilität in der ganzen Region“, sagte Fischer. Annan nickte.



(Quelle: SPIEGEL Nr. 40/27.9.04)





Anmerkung von hella:
Nach langem Grübeln macht sich in mir eine Ahnung breit, als bräuchten wir keine Lyrik mehr. Jedenfalls nicht das, was wir zeit unseres Lebens darunter verstanden haben. Nicht nur die Formen haben sich verändert. Nein, auch die Inhalte passen nicht mehr wirklich in unseren Sprachrahmen hinein. Was gesagt werden muss, wird verschwiegen. Was verschwiegen wird, ist die Wahrheit.
Wenn Lyrik jemals Wahrheiten aufzeigen wollte, muss sie schweigen.  
Wenden wir uns den Sprachformen zu, die morgen oder nie verstanden werden. Das, was heute im SPIEGEL-Artikel steht, werden wir oder unsere Nachfahren verstehen, oder auch nicht. Auf jeden Fall nicht viele. Aber das war bei Lyrik nie anders.