[2004-07-26] 
 

Die Postfrau


Ich brauchte bloß eine klitzekleine Briefmarke und wetzte ins Postamt....  
Hinten anstellen, knurrte der vierschrötige Depp mit mindestens zwei Tonnen Lebendgewicht vor dem Schalter und guckte böse. Selber blöd, dachte ich, und wollte ihn hochmütig übersehen, was mir aber nicht gelang, denn eine solche Kampfmasse lässt sich einfach nicht ignorieren, weshalb ich nur laut mit den Zähnen knirschte.
Das beeindruckte ihn nicht. Aber die Glasvase der Postfrau, in der eine einsame Rose vor sich hintrocknete .... (Sie hatte sie zum letzten Hochzeitstag geschenkt bekommen – ich weiß nicht, der wievielte es war, ist ja auch egal, aber ein zweistelliger war es bestimmt, denn sie sah alt aus und ein bisschen wie vermodert.) ... zersprang. Auch die Postfrau guckte nun böse, doch sie konnte nichts machen, denn Zähne-Knirschen ist nicht verboten.
Der Depp versuchte, seine Fleischmassen umzudrehen, um nachzuschauen, woher das Geknirsche kam, aber auf halbem Weg gab er es auf und guckte blödsinnig nach vorne auf die kaputte Glasvase, die von der Postfrau gerade eingesammelt und in den Restmüll-Behälter entsorgt wurde. Sie war eine ordentliche Frau, die Postfrau, sonst wäre sie auch keine Postfrau geworden, sondern vielleicht Katzenjägerin in der Sahara oder so was Ähnliches, aber stattdessen war sie lieber zuhause geblieben, hatte für ihren Mann drei Kinder in die Welt gesetzt, was ja durchaus ehrenwert ist, vor allem weil alle drei genau so ordentlich geraten waren wie der Sonntags-Nachmittags-Kuchen, den sie seit Jahren mit gleichbleibender Könnerschaft und nahezu perfekt aus dem Ofen holte.
Ich sage „nahezu“, denn wer möchte schon die absolute Perfektion erreichen, das ist ja langweilig, ein wenig Abenteuer muss ja noch sein im Leben, und wenn es nur darum geht, die Luft anzuhalten, ob das Baiserhäubchen auf der Torte beim Backen seine Form behalten hatte oder zusammengefallen war. Wenn es platt auf dem Kuchen klatschte, war der Sonntag-Nachmittag gelaufen. Aber es kam ja wieder ein Sonntag und noch einer und noch einer – das Leben ist eine Herausforderung.

Der Fettsack furzte mir ins Gesicht, wodurch ich fast einen Erstickungsanfall bekam. Ich schmiss eine gehörige Portion Empörung in Richtung Fett, lautlos zwar, aber mit funkelnden Blicken, die feuergefährlich waren, und mit einem kleinen Streichholz einen Flächenbrand ausgelöst hätten, in dem dieses leibhaftige Fettsilo leise zischelnd verköchelt wäre. Vielleicht hätte man ihn noch für eine Suppe oder eine Portion Pommes verwenden können. Aber wahrscheinlich war das keine gute Idee, denn man möchte ja kein Essen kochen, von dem man die Kotze kriegt.

Meine Empörung prallte an dem stinkenden Fleischgebirge leider ab wie eine Heuschrecke, die auf die Autoscheibe knallt, was mich wunderte, denn eine Autoscheibe ist hart, und mein Vordermann wabbelte als milliardenfache Amöbe durchs Leben. Also sah ich zu, wie meine Erregung  zickzackförmig im Raum herumvagabundierte und zum Schluss ohnmächtig an der Decke kreiselte, wo sie sich schließlich in fein abgestimmten Atomen  mit den Inhaltsstoffen des übrigen Raumes vermischte, womit sie ihre Herkunft und Identität aufgab und, zur Unkenntlichkeit verdammt, als virtuelle Duftmarke auf unsere Köpfe  herabrieselte.
Als der Fettwanst vor mir ca. 10 Briefkuverts hervorholte, die noch nicht verschlossen waren und dann auch noch eins von diesen attraktiv-blauen Postsparbüchern auf den Tresen zauberte, dachte ich, ich hätte mir besser eine Brotzeit und eine Maß Bier mitgebracht, denn dies hier sah nach einer längeren Operation aus.
Sie müssten eine Kinoleinwand aufhängen in den Postämtern. Dann würde die Wartezeit in diesen Horten mit dem sauertöpfisch  fettgrauen Charme einer verschimmelten Leberwurst erträglicher werden. Für meinen XXXL-Vordermann würde ich dann Ben Hur auswählen. Ein Kurzfilm reicht für so einen nicht.
Wenn man die Leinwand so anbringen würde, dass auch die Postfrau gelegentlich einen Blick drauf werfen könnte, dann könnte man diese Tat sogar unter dem Aspekt der tätigen Nächstenliebe verkaufen, denn schließlich gibt es ja auch Liebesfilme. Richtig schöne. Fürs Herz. Das würde die Postfrau zum Weinen bringen, ihr verkniffenes Gesicht würde sich entfalten und weich würde sie abends ihren Gatten mit einer neu erwachten innigen Glut beglücken.
Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob sich der Ehemann beglückt fühlen würde und sich stattdessen nicht eher um sein Abendessen sorgt. Wahrscheinlich ist es überhaupt keine gute Idee, wenn die Postfrau sich während der Arbeit Liebesschnulzen reinzieht, auch nicht portions- und scheibchenweise zwischen zwei Arbeitsschritten.
Man stelle sich nur vor, wie die Tränen in ihren Augen ihren Blick verschwimmen lassen, und schon gibt sie das Wechselgeld falsch heraus. Oder noch schlimmer. Die Tränen tropfen auf die bunten Briefmarken, auf die gummierte Seite natürlich – das ist wie beim Butterbrot, das immer auf die falsche Seite fällt -  die daraufhin verklumpen und die schönen Bildchen beschädigen, und dann kauft kein Sammler mehr die Marken, und die Post muss mit einem weiteren Minus kämpfen. Ein klares Nein also zu Liebesfilmen.

Aber für all die Post-Abhängigen, die auch Kunden genannt werden ... (obwohl nicht ganz klar ist, wie es im Zusammenhang mit der Post zu diesem Ausdruck kommt, denn in meinem Hinterkopf summt ein alter Spruch herum, der da heißt „der Kunde ist König“, aber als solcher fühle ich mich hier merkwürdigerweise nie, was jedoch bei näherer Betrachtung daran liegen kann, dass ich ja weiblich bin und demzufolge eine Königin sein müsste, aber dann würde der Spruch heißen müssen: „Der Kunde ist Königin“ oder „Die Kundin ist Königin“, und mal ehrlich, wie klingt denn so was?!) ... könnte man doch so eine Art Musik-Box aufstellen mit Wählscheibe für Hardcore, Gemetzel, oder Realitätsfilme, wobei die letztgenannte Kategorie gleich wieder herausgenommen werden kann, denn die Realität in einer Poststelle ist mit keinem Film zu toppen.
    Ich würde Gemetzel wählen, weil ich mir dann noch besser vorstellen kann, wie ich dem vor mir seine tausend Zettelchen ausbreitenden überdimensionierten Wackelpudding das Schwert zwischen die Rippen stechen würde. Obwohl... das wäre nicht einfach, denn wo hatte diese Karikatur von Mensch voraussichtlich so etwas Kräftiges wie Rippen? Wahrscheinlich würde ich nur in der Sülze herumstochern und eine Blutsuppe hervorrufen, die niemand essen wollte.
Eine Gefahr bei solchen Film-Wahlmöglichkeiten besteht allerdings darin, dass die Kunden-Könige aufeinander losgehen und sich oder die Technik niedermetzeln, weil sie sich nicht einigen können, welcher Film ausgewählt werden soll. In der Folge würde die gesamte technische Einrichtung hinter Panzerglas gesichert werden müssen, und schon müsste ein Aufseher her, der für Ordnung sorgt. Auf diese Weise würde die Post neue Arbeitsplätze schaffen, ein Aspekt, der bedenkens- und überlegenswert ist, aber dennoch gleich im Papierkorb verschwinden muss, weil für die Installation der Technik keine Gelder zur Verfügung gestellt werden können... (als Dienstleistungsunternehmen ist die Post ja eine eher arme Institution, und der Verkauf von ein paar verheulten Briefmarken kann wahrlich nicht dazu führen, dass sie wieder in die Gewinnzone rutscht) ...und wenn es keine Technik gibt, gibt es auch keine neuen Arbeitsstellen, wodurch also die Zahl der Arbeitslosen bleibt wie sie ist, nämlich enorm.

Als ich aus meinem gedanklichen Kino-Leinwand-Film-Arbeitslosenproblem-Lösungs-Koma wieder erwachte, war die Postfrau gerade dabei, den zehnten Briefumschlag abzuwiegen.
Die Monstergestalt vor mir hatte kein Geld dabei. Die Postfrau sollte die Kosten für die zehn Briefmarken von seinem Sparbuch abbuchen. Ganz kurz sah es aus, als bliebe ihr der Mund offen stehen, und sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Aber es war wahrscheinlich nur eine Sinnestäuschung und für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich mich gern mit ihr verbrüdert. Oder verschwestert, was auf das Gleiche hinausläuft.
Ihre Augen waren ein wenig verschleiert. Wenn ich ehrlich bin, hatte sie den Blick einer schlafäugigen Kuh. Das war bestimmt ein Einstellungskriterium für diesen Posten. Anders konnte man den Job nicht ertragen, oder er machte blind, was auch nicht schlecht wäre, denn wer guckt sich schon gerne schlachtreife Gummibären an, die einen Verstand haben, der nicht für zehn Briefmarken reicht?

Solidarität, schrie es plötzlich in mir, und mein gutes Herz klopfte sich an die Oberfläche, Solidarität mit dieser geknechteten Sklavin eines Systems, in dem sie gefangen ist, verdammt zu einem schmallippigen Blumenvasen-Leben ohne Kinoleinwand zur Heilung ihres Seelenschmerzes, den sie in all den Jahren verlebt hat und von dem noch nicht einmal ein paar Narben übrig geblieben sind.
Ich schaute milde gesonnen auf ihre roten Hausfrauen-Hände und dachte an das Märchen vom armen Aschenputtel, das schließlich doch noch ihren Prinzen gefunden hatte und nicht mehr blöde Linsen sammeln und sortieren musste, sondern ihre Hände solange pflegen konnte, bis sie weiß und klassisch edel aussahen.
Ein Prinz für die Postfrau! In Gedanken entwarf ich ein Plakat, das ich über die ganze Stadt verteilen würde. Anzeigen in der Zeitung und im Werbefernsehen, wichtige Gespräche in den Talkshows auf allen Sendern. Ein Wunder müsste geschehen. Das Postfrauen-Wunder.
Jetzt wusste ich plötzlich auch, wozu der verschleierte Kuh-Augen-Blick notwendig ist: er ist einer Königin angemessen. Ich hätte wirklich gleich drauf kommen können, aber ich gebe zu, dass das ungeheuerliche, stinkende Ungetüm vor mir meine Gedanken so abgelenkt und verunreinigt hatte, dass ich mich erst schütteln musste, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Während ich mich innerlich mühsam in Ordnung brachte, bemerkte ich, dass das gigantische Fleischgebirge vor mir in eine wankende seitliche Bewegung geraten war, ein Scheibenwischer aus zwei Tonnen Fettmasse. Genug, um mir den Blick zu versperren. Ich hörte ein mühsames Schnaufen, ein Ächzen, als würde eine Holzwinde eine schwere Last bewegen. Er versuchte wirklich, sich zu bewegen. Ich spürte, wie auch für ihn mein Herz weicher wurde. Er war ja ein bemitleidenswertes Stück Mensch, ich durfte nicht so aggressiv denken, vielmehr sollte ich froh sein, dass ich auf der besseren Seite des Lebens stand. Ich war gerade dabei, mein Gemüt auf eine 180 Grad-Kehrtwendung zu drehen und überlegte, ob ich eventuell doch ein Abschiedslächeln versuchen sollte. (Es musste ja kein großes sein, und es musste ja auch nicht von Herzen kommen. An Weihnachten mache ich doch auch Leuten ein Geschenk, die mir tief im Herzen scheißegal sind. )
Also, warum nicht hier in diesem streng riechenden, abgetakelten Raum ein bisschen Weihnachten spielen, meinem Herzen einen Stoß geben und einfach die Mundwinkel in eine freundliche Position ziehen. Dachte ich...
Und dann guckte ich zum Schalter und suchte meine königliche Postfrau, meine Solidar-Genossin, die ich zu meiner Schwester erkoren hatte, weil sie Monstermenschen aushielt, ohne schreiend davonzulaufen, und dann stellte ich fest, dass sie nicht mehr da war, denn sie hatte den Schalter inzwischen geschlossen und war zu ihren drei wohlgeratenen Kindern und ihrem veralteten Hochzeiter in die Mittagspause gegangen.
Scheiße, schrie ich und trat dem Fettsack in die Eier. Der schrie auch, und dann kam die Polizei.  

P.S.  Mein Psychiater sagt, ich habe ein Post-traumatisches Syndrom. Ich habe keine Ahnung, was er damit meint.