[2004-06-23] 
 

TÖDLICHE ILLUSION


Blauäugig, viel zu blauäugig ritt die Schöne auf ihrem Pferd durch den dunklen Wald. Finster war es, doch sie wollte es nicht bemer-ken.
Sie sah sich in goldener Latex-Tracht mit wehendem weißen Schlei-er und einer Krone, die blitzte. Ihr Lächeln schien nur gefroren. Sie konnte nicht anders. Es war irgendwann auf ihrem Gesicht erstarrt. Aber es war schön. Sie hielt sich aufrecht und edel und wünschte sich den Jubel der Menge, wenn sie den Wald verlassen würde
Draußen stank es nach Autoabgasen und dicken Essengerüchen aus Erbsenbrei, Pommes und brauner Soße; der Lärm war schrill und übertönte jeden Gedanken. Unterhalb der ameisenähnlichen Geschäftigkeit nistete das Nichts. Es hatte Jahrmillionen Zeit gehabt, sich zu dehnen, zu wachsen und das Dasein zu unterminieren. Es lag darunter wie eine gefräßige Schlange, die sich dick und rund ausruht, bevor sie ihre nächsten Opfer zum Verschlingen sucht. Wenn es so weit war, züngelte sie ein paar Löcher in die Oberfläche und schlürfte ein paar Tonnen der zappelnden Ameisen in ihren Schlund. Während sie darum kämpfte, sich von diesem Fraß nicht zu übergeben, ging es oben mit dem Aufbau weiter. Die kindischen Zappeltiere begriffen gar nichts.
Die Schöne in der goldenen Latex-Tracht näherte sich dem Ende der Finsternis. Aber die wabernden Wolken, die ihr wie Licht erschienen, stammten  von der letzten Explosion einer Öl-Pipeline, die die Phari-säer in die Luft gejagt hatten. Die Musik, die sie hörte, entstand durch die vielfältigen Schreie der Menschen, die ganz oder teilweise mit in die Luft geflogen waren. Sie hatten gar nicht fliegen wollen und beschwerten sich nun lautstark über ihr Schicksal.
Die Schöne focht es nicht an. Sie wollte Licht sehen, und sie wollte Musik hören. Und wenn der Brandgeruch ihre Nase erreichte, gab sie ihm den Namen Eau de fumé, das klang hübscher als „verbrann-te Erde“.
Draußen hatte die Luft den Atem angehalten, und die Hitze begann einer sengenden Glut zu gleichen. Sehr ruhig zwar, aber gefährlich. Als die Menschen spürten, wie die Gefahr an ihnen heraufzukrie-chen begann, war es schon zu spät. Wer nicht erstickte, verbrannte. Die Schlange freute sich über das unerwartete Mahl.
Die Schöne saß auf ihrem Pferd in der Wüste und träumte. Von Licht und Luft und Wärme und Liebe und Lust. Sie wartete auf die, die ihr zujubeln würden. Sicher würden sie bald kommen. Sie sah sich in goldener Latex-Tracht mit wehendem weißen Schleier und einer Krone, die blitzte...