[2007-08-21] 
 

LOTTES KIND


Lotte legte die Haselnuss in den Kinderwagen und deckte sie sorgfältig zu.
Ich werde dich beschützen, murmelte sie und nickte bedächtig. Das ist ein Versprechen.
Am Horizont grollte es laut und mächtig. Lotte hob den Kopf.
Ach ja, Ihr. Seid leise. Ihr weckt mein Kind auf. Es könnte sich erschrecken.
Lotte rollte und schaukelte mit dem Kinderwagen durch das unebene Gelände. Sie summte die Töne eines kleinen Schlaflieds, doch ihr Gesang wurde von dem aufziehenden Gewitter übertönt.
Lotte brummte ärgerlich. Ihr sollt uns doch in Ruhe lassen. Spielt woanders Euer Lied.
Im nächsten Augenblick rammte sich ein Blitz vor ihr in den Boden, und der Schlag des Donners hob sie mitsamt dem Kinderwagen in die Höhe.
Du weckst mein Kind auf, schalt Lotte und beugte sich fürsorglich über den Wagen. Die Haselnuss war ein wenig verrutscht, und Lotte brachte sie wieder in die richtige Position.
Der Wind hatte sich verstärkt. Er wurde immer schwerer und drehte sich Lotte entgegen, wann immer sie die Richtung ändern wollte, um leichter vorwärts zu kommen.
Keine Angst, mein Kind, sagte sie beruhigend. Ich passe auf die auf.
Lotte merkte, dass sie im Kampf mit dem Wind schwächer wurde. Manchmal schien es ihr, als würde sie auf einem Fleck stehen bleiben und keinen Millimeter mehr weiter kommen. Dann wieder ergriff der Wind, der inzwischen Sturmstärke angenommen hatte, sie von hinten und verlieh ihr Flügel, die sie in schneller Geschwindigkeit vorwärts trieben. Abgehoben vom Erdboden und himmelwärts.
Lotte klemmte den Griff des Kinderwagens in ihre Armbeuge. Wenn sie anfangen würde zu fliegen, wollte sie ihn und ihr Kind auf jeden Fall mit sich hinauf nehmen. Beruhigend schaute sie in den Wagen. Ihr Kind war nicht mehr zu sehen. Lotte lächelte. Es hatte sich bestimmt unter der Decke versteckt.
Komm heraus, mein Kind. Der Sturm ist gefährlich, aber der Blitz zeigt uns den Weg nach Hause, und der Donner vertreibt die bösen Geister. Komm heraus, hab keine Angst.
Doch die Haselnuss zeigte sich nicht. Vielleicht hatte der Wind sie herausgehoben und weg getragen. Vielleicht war sie durch eine Ritze des Wagens gefallen. Vielleicht hatte sie sich auch hinaus rollen lassen, um ihren eigenen Weg zu finden. Vielleicht.
Lotte war stehen geblieben. Sie ließ den Wagen los und schaute sich suchend um. Im nächsten Moment wurde sie mit großer Wucht zur Seite geschleudert. Der Blitz hatte den Kinderwagen getroffen und zerfetzt. Der Donner gab den finalen Paukenschlag, entfernte sich dann aber schnell, als habe er mit dem Ganzen nichts zu tun. Sogleich packte auch der Sturm seine Flügel ein und trollte sich davon. Ruhe war eingekehrt.
Lotte fand sich zusammen gekrümmt auf dem Boden wieder. Sie rappelte sich auf. Ich muss nach Hause, murmelte sie. Mein Kind wird auf mich warten. Ich muss es beschützen.