[2006-05-16]
See-Wetterbericht
Vor-Leseanleitung: sehr langsam, betont, mit Pausen zum Mitschreiben
Sturmtief 978
westlich Irland
vertiefend
Nordnordoostziehend
nachts 963
auf 60 Nord 15 west
Ausläufer 1000
äußerer Biskaya
oostschwenkend
nachts Fischer
1005 englischer Kanal Westteil
Anm.: Das ist ein Originaltext aus dem Rundfunk. Der Hörer weiß, dass der Text eine Botschaft enthält, versteht sie aber nicht, wenn er nicht vom Fach ist. Dadurch kriegt der Text eine andere Dimension und ein Eigenleben mit experimentellem Charakter. Lyrik, die der Alltag schreibt?
So ein Text – aus seinem ursprünglich gemeinten Kontext gelöst – präsentiert sich dann plötzlich als komprimiertes, auf das Mindestmaß des Notwendigen reduziertes kleines Kunstwerk. Mir hat es gefallen – insbesondere die Zeile „nachts Fischer“ hat mich angesprochen, weil der anonym wirkende Text plötzlich etwas Greifbares erhält, etwas, an dem sich die Phantasie entzünden und festhalten kann.
Mich würde interessieren, ob es anderen genau so geht. (Vielleicht klappt das ja aber auch nur, wenn man den getragenen Tonfall im Ohr hat, der zu diesem Textstück gehört.)
‚oost’ habe ich übrigens geschrieben, weil der Sprecher es so lang gezogen vorgetragen hat.