[2005-06-28] 
 

Sticke Ficht, kauzische Ficht


Nachdenken über Sprache, Ersetzbarkeit von Wörtern, über Formen der Literatur und Alternativen zur Sonne ...

Beispiele aus dem Rotwelsch:

Duftmann ätscht sein blohen Hut

Duftmann ätscht sein blohen Hut
wieder flügeln durch die Püffe;
zuckre, duftbegneißte Müffe
seichten baumbeölt die Glut.
vjolkes holmen risch,
wähnen anbau sein.
- Lug, von lenz ein klitzer Fiddelkisch!
Duftmann, kenn du schäftsts!
Dich tarrt ich verschmein!


Sticke Ficht, kauzische Ficht

Sticke Ficht, kauzische Ficht,
hackel lullt, eckern sticht
nor das dufte kulmkauzische Alm.
Fitzer Streichling im trilligen Halm,
pfeif in mauschligem Kiem,
pfeif in mausligem Kiem.

Sticke Ficht, kauzische Ficht
Rauhe erst Zünd malicht,
durch der Flüglinge Jaulgezeck
kischkescht’s lenz und gich ums Eck:
Joisl der Nespergeist schäfts
Joisl der Nespergeist schäfts

Sticke Ficht, kauzische Ficht,
Funkes Streich, oh wie micht
Lenz aus deinem gurrischen Gill,
könig wuscht die deckende Ill
Joisl in deinem Gewinn
Joisl in deinem Gewinn


(„Duftmann ätscht...“ ist ein klassisch- romantisches Frühlingsgedicht;  „Sticke Ficht, kauzische Ficht“ ist ein ganz berühmtes Lied, das wir alle! kennen)


Es handelt sich hier nicht um Sprachspielerei! Die Chiffrierung der Begriffe aus der deutschen Hochsprache dient vielmehr zunächst dazu, sich innerhalb einer eigenen Fahrensgemeinschaft miteinander so zu verständigen, dass die eher feindliche Um- und Außenwelt ausgeschlossen blieb. Nach und nach entwickelt sich eine eigene Sprache/ Kommunikationsmöglichkeit, die auch zur „Übersetzung“ von Sprachkunstwerken dient (siehe die beiden Beispiele).
Die Chiffrierung wird erreicht, in dem vor allem Substantive, Verben und Adjektive ausgewechselt werden. Als Material dienten Wörter der deutschen Hochsprache, deren Bedeutung sie veränderten oder die sie in vielfältiger Weise umbildeten....

Der Begriff bleibt aber immer stehen, auch wenn wir ihn hinter dem Wort zunächst einmal nicht mehr finden. Wenn wir ihn suchen, dann über vergleichende Maßnahmen, Klangähnlichkeiten, Textaufbau bei Gedichten....

Wenn wir über etwas reden, etwas be-zeichnen, dann zeichnen wir mit Worten; wir malen den Begriff, geben ihm eine scheinbare Optik, machen ihn sichtbar. Aber andere Menschen verwenden andere Wörter. Bei der Fremdsprache ist das akzeptiert. Auch bei den Sprachen geschlossener, durch ungewöhnliche Lebensumstände entstandene Gemeinschaften (wie im Rotwelsch). Bei den Wörtern, die ein Autor er- findet, wird es schwieriger. Es fehlt der Konsens, dass das Geschriebene als wahrhaftig einen Begriff meinend und beschreibend, akzeptiert werden kann, darf, muss. Er steht zunächst allein und braucht die Zustimmung und Anerkennung anderer, sonst ist sein Werk schon vergessen, bevor es entstanden ist.

Aber meist ist die Ablehnung vorprogrammiert, obwohl der Autor nichts anderes tut als Begrifflichkeiten niederschreiben, die schon millionenfach niedergeschrieben worden sind. Er verwendet nur ein anderes Regelwerk, vielleicht, um andere Schwingungen zu erzielen, vielleicht um einen Begriff zu neuer Blüte zu bringen, in wieder Klingen zu machen und herauszuheben aus dem allgemein einerleiigen Wortgeklingel.

Was ich mir in so einem Fall für die Autoren wünschen würde: dass die Leser sich auf den Text einlassen, sich sozusagen hineinfallen lassen und in sich hinein hören, ob da beim Lesen etwas entsteht – vollkommen unabhängig davon, ob der Text auf den ersten Blick sinnvoll scheint oder nicht. Das kann über den Klang, über die Rhythmik gehen, das kann dadurch passieren, dass einzelne Begriffe eine eigenständige Bedeutung und Wichtigkeit bekommen, das kann einfach dadurch geschehen, dass der Text einen weinen oder lachen macht.
Letztlich läuft es darauf hinaus, dass der Leser den Sinn eines (literarischen) Textes ganz für sich allein definieren soll und kann. In dem Moment des Lesens soll er sich dem Text ausliefern, ohne Erwartungshaltung ohne zwanghaftes Verstehen Wollen, ohne diese furchtbare Germanistengier, ihn INTERPRETIEREN zu sollen.
Der Text wird dann das persönliche Gut des Lesers. Er formt das Kind, das ihm der Autor geschickt hat, nach eigenen Vorstellungen und sucht und findet sein ganz persönliches Juwel.

Ich höre den Aufschrei der Literatur-Rezipienten. Aber das geht doch nicht! Dann kann jedes  billige  Herz-Schmerz Elaborat sich als Literatur bezeichnen, wenn es beim pubertierenden Jüngling etwas bewirkt. Und ich sage: Jawohl. Das kann es.
Die Qualität entsteht in diesem Fall in dem Jüngling und nicht in der allgemeinen Literatur-Betrachtung. Der Text pulsiert in dessen Seele. Er (und vielleicht er ganz allein) versteht ihn und zieht Kraft (oder Unglück) daraus. Der Text hat ihn erreicht.

Auf diese Weise wäre Literatur plötzlich etwas ganz Privates. Sie bedürfte nicht der „Genehmigung“ irgendwelcher echter oder vermeintlicher Autoritäten. Auf diese Weise bräuchten wir aber auch nicht mehr die unsägliche Trennung zwischen hoher und trivialer Literatur – der Konsument der Trivial-Literatur bräuchte sich nicht als Mensch zweiter Klasse zu fühlen und sich seiner Neigung zu genieren.

Ich persönlich habe kein Problem mit der ‚hohen’ Literatur – ich mag sie nur meist nicht. Sie erreicht mich einfach nicht. Wenn alle anderen in Ehrfurcht erstarren, frage ich mich meist, warum. Das geht mir in Museen oft ähnlich – hie und da gibt es einen fröhlichen Menschen um mich herum, der mir dann etwas erklärt, und das ist oft hilfreich. Und damit komme ich zum nächsten Punkt. Auch bei der Literatur gibt es natürlich Qualitätsunterschiede, die man erklären kann. Aber dazu brauche ich keinen großen Namen, keine Dichterfürsten und keine Nobelpreisträger. Dazu muss ich etwas über Inhalte, über die Vermittlung von Inhalten, über (Kunst-)Formen und über Sprache als Arbeitsmaterial lernen. Wenn ich mich darauf einlassen will, kann das eine spannende Sache sein, und es kann daraus entstehen, dass mein pubertierendes Herz-Schmerz-Gedicht irgendwann mit einem Lächeln in der Schublade landet. Die Betonung liegt auf „Lächeln“! D.h. in diesem Fall mit dem Wissen, dass es Texte gibt, die in bestimmten Lebensphasen die richtigen sein können, und später durch ganz andere  abgelöst werden. Dadurch werden sie nicht besser oder schlechter. Sie existieren, so wie Sonne, Mond und Sterne. Und es wird sie immer geben.

aggum! steht für die Freiheit der Sprache