[2005-05-05] 
 

Das Fahrrad


Er war ein strenger Vater. Der Hof war schwer zu bewirtschaften. Die nächste Stadt war zu Fuß nur in vier Stunden zu erreichen. Ein Auto konnten sie sich nicht leisten.
Die Mutter war eine stille Person, die dem Vater mit der Landwirtschaft half und für die sieben Kinder sorgte. Sie waren, bis auf Pjotr, klein und wussten ihren Weg noch nicht. Wenn der Vater kam, duckten sie sich. Sie mussten sich in eine Reihe stellen und auf sein Wort hören, und sie mussten beten, wenn die Mutter das Essen auf den Tisch stellte.
Pjotr war der Älteste. Die Mutter hatte ihn mitgebracht, als sie den einsamen Mann auf dem einsamen Hof heiratete. Draußen lagen die weiten Flächen der Arbeit, die so still schienen, aber die Kräfte der Menschen herausforderten. Und noch wusste niemand, wer Sieger bleiben würde.
Der Vater war so still und schweigsam wie sein Land, und der Lärm der Kinder schien ihn manchmal zu stören. Er wischte dann mit der Hand durch die Luft, als würde er eine lästige Fliege vertreiben. Sein Blick war geradeaus gerichtet. Wenn er zu seinen Kindern sprach, schaute er über sie hinweg. Es schien, als würde er sie gar nicht wahrnehmen.
Nur bei Pjotr glomm manchmal ein warmes Lämpchen in seinem Gesicht auf. Aber das merkte niemand, nicht einmal er selber. Der Junge war für sein Alter groß gewachsen. Mit 12 Jahren konnte er schon arbeiten wie ein Mann, und er tat es auch. So klaglos und schweigsam wie alle hier draußen.
Als er zur Schule gekommen war, hatte der Vater ihm ein Fahrrad gekauft. Es war alt und rostig, aber Pjotr konnte den Schulweg damit schneller schaffen, um rechtzeitig wieder für die Feldarbeit zu Hause zu sein.
Der Weg zur Schule war beschwerlich. Die Gegend war bergig, die Wege nicht asphaltiert und oft von Geröllhalden verschüttet. Pjotr gewöhnte sich schnell daran. Er war jung und gelenkig. Zwar fiel er manchmal, aber er stand immer wieder auf. Er wusste ja, sein Vater wartete auf ihn, auf ihn, den Mann.
Er liebte das Fahren über die unbefestigten Straßen. Wenn sein Rad zur Seite rutschte, und er es im letzten Augenblick wieder abfangen und gerade richten konnte, huschte ein seltenes Lächeln über sein Gesicht. Er war ein Kämpfer und ein Sieger.
Pjotr hatte keine Feinde. Er war der ‚Kerl von da draußen’. Das war eine andere Welt für die Stadtkinder. Keine Konkurrenz, kein Neid. Eher Schulterzucken. Komische Leute halt. Die Mädchen allerdings fanden Pjotr gut und tuschelten hinter ihm her. Weil er aber so still war, trauten sie nicht, ihn anzusprechen. Es gab ja auch kaum eine Gelegenheit. Morgens kam er mit dem Glockenschlag in die Schule. Nach Schulschluss verließ er das Gebäude schnell und ohne Aufenthalt. In den Pausen saß er über seine Hefte gebeugt. Er versuchte, wann immer es ging, die Hausaufgaben in der Schule zu erledigen. Zu Hause hatte er zu wenig Zeit dafür.
Anfangs hatten sie ihn gehänselt. Aber er hatte sich nicht provozieren lassen, und nun wurde er geduldet wie ein altes Möbelstück, das zum Inventar gehörte, aber gar nicht mehr wahrgenommen wurde.
Im Sport war er allen überlegen. Schon deutlich erkennbar die Muskeln auf seinen Armen und dem breiten Kreuz. Er war stämmig und stark und wendig und schnell. Aber auch hier entstand kein Neid. Pjotr gab nicht an und ließ sie ihre Unterlegenheit nicht spüren. Das war in Ordnung.
Sein Fahrrad stellte Pjotr immer an denselben Platz. Er nahm sich Zeit, es festzubinden. Ein richtiges Schloss hatte es nicht, aber er hatte ein dickes Tau dabei, das er mit schweren Knoten mehrfach um Reifen und Rahmen schlang. Wie eine Schlange kroch das Seil über das Fahrrad, als wenn es mögliche Diebe warnen wollte: kommt mir nicht zu nahe.
Manchmal hatte einer der Jungen versucht, die Knoten zu öffnen. Aber es gelang nicht, oder nicht schnell genug. Um es durchzuschneiden, hätte man Werkzeug gebraucht, denn es war dick und fest. Mit den kleinen Taschenmessern war es unmöglich. Es wäre auch nur ein Sport gewesen. Keiner wollte das alte Fahrrad wirklich stehlen.
Und nun schauten sie jeden Tag verblüfft zu, wie Pjotr mit ruhiger Gelassenheit, sein Fahrrad vertäute und es nach Schulschluss wieder so schnell befreite, dass sie seine Handgriffe nie verfolgen konnten.
Das Fahrrad war Pjotrs Heiligtum. Er hatte es von Rost befreit, indem er jede Schraube einzeln abgebürstet und geölt hatte. Er hatte es solange poliert, bis es glänzte, als wäre es gar nicht so alt und abgetakelt wie es in Wirklichkeit war. Für Pjotr war es das schönste Fahrrad der Welt.
Er hatte seinem Vater geschworen, dass er es wie seinen Augapfel hüten würde, denn er wusste, dass es fast ein Vermögen gekostet hatte. Der Vater hatte lange gespart, um seinem Sohn, der nicht sein Sohn war, den er aber wie seinen Erstgeborenen betrachtete, auch wenn er es dem Jungen nie zeigte, dieses Fahrrad kaufen zu können. Das Fahrrad als Zeichen einer Freiheit, die der Junge nie gefordert hatte. Es wäre Pjotr nie in den Sinn gekommen, vom Hof wegzugehen. Dort war sein Platz, und dort wollte er bleiben. Das Fahrrad war für ihn ein Transportmittel. Nicht mehr und nicht weniger. Es hatte seinen Radius erweitert, gewiss. Er war schneller und weiter weg von zu Hause als er es je zuvor hatte leisten können. Aber es brachte ihn auch schneller wieder zurück. Dorthin, wo er hingehörte, wo er sich sicher fühlte.

Teil 2
Pjotr lag oben am Rande der Schlucht in einer luftleeren Blase. Oder vielleicht war es auch eine Glasglocke, die all die Geräusche von draußen abhielt und deswegen keinen Schmerz zuließ. Jenseits der Glocke sah Pjotr das Fahrrad den Abhang hinunterspringen. Es sprang und hüpfte wie ein Geißbock oder eine Ziege, oder noch viel eher wie ein Reh, das ohne Hast und Angst seinem Ziel entgegenläuft. Es waren schöne Bewegungen, die sich wunderbar der kargen, steinernen Umgebung anpassten, ein mildes Bild für eine grausame Wirklichkeit. Denn Pjotr sah, wie das Fahrrad, sein Fahrrad, die Form verlor, wie es mit jedem erneuten Aufprall auf das Geröll ein wenig mehr verbogen wurde, wie das Glas der Lampe splitterte und glitzernd durch die Luft flog, wie der Rahmen sich faltete und knitterte und die Sattelstange sich aufbäumte, als wollte sie sich gegen dieses große Unglück wehren, das sie dennoch nicht verhindern konnte.
Pjotr sah es, aber er nahm es nicht wahr. Es geschah lautlos, wie auf einer Kinoleinwand, deren Ton abgestellt worden ist. Damit verlor es den Schrecken und gewann die Dynamik einer anderen Dimension. Eine bessere Welt vielleicht, in der Leid und Schrecken ausgeschlossen bleiben und der Mensch Frieden mit seinen Sinnen und Möglichkeiten schließt. Indem dieser Gedanke aufschien und wieder verschwand, wachte Pjotr auf. Er schaute sich um und merkte, dass er sich nicht in einem bösen Traum befand. Schmerzen krochen in ihm hoch. Nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen, deren Wucht ihm fast den Atem nahm. Aber das wusste Pjotr noch nicht. Keuchend zwang er seinen Blick zurück und in sich hinein. Die Erinnerung kam zurück. Ja, er war mit dem Fahrrad gefahren. Auf dem Weg nach Hause. Er hatte sich so sehr über eine gute Note in der letzten Klassenarbeit gefreut. Er wollte so schnell wie möglich heim und es seinem Vater erzählen, der ihn staunend ansehen und sich mit einem unmerklichen Lächeln wieder seiner Arbeit widmen würde. Dieses kleine Lächeln war es, das Pjotr antrieb und mit freudiger Erregung erfüllte. Es war des Vaters größtes Lob und Pjotr hätte es für kein Gut der Welt eintauschen mögen.
Er flog mit dem Fahrrad über das Geröll des steinigen Weges. Er zog das Vorderrad hoch und über die kleinen Felsbrocken hinweg wie ein Reiter beim Rodeo, er rutschte durch Furchen und über sandige Strecken, bei denen sein Pferd nach hinten ausbrechen wollte, aber er hatte es im Griff und er sang und strahlte, und die Welt war gut.
Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Nur noch den schmalen Grat musste er überwinden, der links in einen schroffen Abhang überging, und der gerade mal breit genug war, um das Pferd des Vaters mit dem kleinen Leiterwagen durchzulassen. Kein Problem für Pjotr und für die zwei Räder, die für ihn die Welt bedeuteten.
Die Vorfreude, so kurz vor dem ersehnten Ziel zu sein und seine vor Glück übermütige Stimmung ließen Pjotr ein wenig unachtsam werden. Nur für den Bruchteil einer Sekunde.  Ein kleiner Zeitschnitt nur, bedeutungslos im großen Lauf der Welt. Genug jedoch, um den Vorderreifen des Fahrrads unglücklich abrutschen zu lassen, so dass Pjotr das Gleichgewicht  verlor. Instinktiv stieß er den Lenker von sich, riss die Arme vor sein Gesicht und machte sich rund, um den Fall durch geschicktes Abrollen ein wenig zu dämpfen. Gleichzeitig rutschte das Fahrrad zur Seite und über den Felsbrocken weg und nahm seinen Weg, noch ehe Pjotr sich auf dem trocken staubigen Boden wiederfand.
     Pjotr rappelte sich auf. Sein linker Arm fühlte sich taub an und dick, und er hatte Mühe, ihn zu bewegen. Er sah an sich herab. Seine Kleidung hing an einigen Stellen in Fetzen, aber sie hatte ihn wohl vor größeren körperlichen Schäden bewahrt. Nur ein paar Schürfwunden stellte er fest. Die waren für einen sportlichen Jungen wie ihn kaum der Rede wert. Der Arm jedoch tat entsetzlich weh. Pjotr versuchte, den Schmerz zu kontrollieren, in dem er tief, ganz langsam und konzentriert atmete. Für einen Moment schien der Schmerz zurückzugehen. Pjotr presste den Arm an seinen Körper und ging ein paar Schritte. Während er mühsam voran stolperte, fiel sein Blick in die Tiefe. Da unten, ganz nah an einem kleinen Bach, lag sein zerkrümmtes Fahrrad, seine Welt. Zusammengebrochen. Zerstört.
  Jetzt erst fing Pjotr an zu weinen. Die Wärme der Tränen stieg in ihm auf und breitete sich aus zu einem Wasserfall, in dem dieser Junge, der auf dem Weg zum Mann war, am liebsten ertrunken wäre. Er wollte nicht mehr leben. Nicht ohne das Fahrrad. Und er wollte nicht mehr nach Hause. Sein Vater würde ihn für immer verachten. Pjotr hatte sich seines Geschenks  nicht würdig erwiesen.


Teil 3

Als Pjotr nach Hause kam, war es schon fast dunkel. Die Mutter hatte die kleinen Geschwister schon zu Bett gebracht und stand besorgt in der Tür, als sie ihren Ältesten auf das Haus zukommen sah. Dann stand er zitternd und schmerzgekrümmt vor ihr, und sie erschrak. Der Junge, ihr Großer, war verletzt. Das war es aber nicht, warum sie nun ihre Hände vors Gesicht schlug. Ihr Pjotr hatte plötzlich ein altes Gesicht bekommen. Er war aschfahl, und seine Augen starrten auf einen unsichtbaren Punkt hinter ihr. Es sah aus, als wolle er keinen Schritt mehr weitergehen, weil er dort etwas sah, was ihn lähmte, was ihn zurück hielt, was ihm Angst zu machen schien. So hatte die Mutter ihren Sohn noch nie gesehen. Sie hätte ihn gern in den Arm genommen und getröstet, aber das war etwas für die Kleinen, die Hilflosen, die noch ihres Schutzes bedurften. Pjotr dagegen war ja schon fast ein Mann. So beschränkte sich die Mutter auf eine kleine Handbewegung, mit der sie ihren Sohn an der Schulter berührte. Das war ihr Zeichen von Trost, und es schien, als würde das Zeichen bei Pjotr angekommen sein, denn er bewegte sich wieder und ging mit der Mutter in die Küche.

Die Mutter versorgte Pjotr mit der Routine, wie sie die Frauen an den Tag legen, die in abgeschiedener Einsamkeit gelernt haben, mit Verletzungen umzugehen, mit den kleinen und großen Tragödien, die sich auf so einem Einsiedlerhof immer wieder abspielten. Es war nicht viel Unterschied zwischen den Tieren und den Menschen, wenn es um Notsituationen ging. Sie mussten versorgt werden. Zeit zum Klagen und Jammern blieb da nicht.
Und so half sie ihrem Sohn, die zerfetzten Kleidungsstücke auszuziehen, wusch mit warmem Wasser die Schürfwunden sauber und schmierte Jod darauf, das einzige Heilmittel, das sie immer im Haus hatten. Wieder flossen bei Pjotr die Tränen, aber die Mutter achtete nicht darauf. Jod tat weh und brannte. Das trieb die Tränen auch bei Erwachsenen ganz von allein heraus. Aber es war nicht das Jod, das Pjotr zum Weinen brachte. Er sah sein Fahrrad im Abgrund liegen, einen zerbeulten Schrotthaufen, der einmal Teil seines Lebens gewesen und nun für immer zerstört war.
Während die Mutter den linken Arm untersuchte und vorläufig mit einem Handtuch eine Schlinge darum legte, um ihn ruhig zu stellen, erzählte Pjotr seiner Mutter schluchzend von dem Unfall. Oh. Das war nun wirklich schlimm. Die Wunden würden verheilen. Aber wenn es stimmte, was Pjotr sagte, dann war das Fahrrad endgültig kaputt und nicht mehr zu gebrauchen. Das würde den Vater wütend machen, hatte er Pjotr doch immer wieder gepredigt, auf das Fahrrad aufzupassen wie auf seinen Augapfel. Noch während sie überlegte, wie sie ihrem Mann das Geschehene beibringen sollte, öffnete sich die Tür, und Pjotrs Vater, der nicht sein Vater war, trat herein.
Mit dem Heben einer Augenbraue forderte er eine Erklärung für die Szene, die er hier vor sich sah. Pjotr hatte sich unwillkürlich geduckt, so als würde er Schläge erwarten und saß mit gekrümmten Schultern auf seinem Stuhl. Es war nicht mehr zu unterscheiden, ob es die Schmerzen waren, die ihn zusammenfallen ließen oder die Angst vor dem, was auf ihn zukommen würde. Mit unbewegtem Gesicht nahm der Vater den Bericht der Mutter entgegen. Dann sah er Pjotr verächtlich an, spuckte vor ihm aus, drehte sich um und verließ die Küche.

In Pjotr löste sich nichts. Er hatte gewusst, geahnt, vorausgesehen, dass es so kommen würde, er hatte darauf gewartet, angespannt und verkrampft, und er hatte gehofft, dass ein paar Ohrfeigen oder ein riesiges Donnerwetter ihn erlösen würden, ihm helfen würden, aus dieser Starre herauszukommen, um weiterleben zu können, um vielleicht einen Neuanfang zu schaffen. Das, was da gerade geschehen war, machte alle seine Hoffnungen zunichte. Der Vater verachtete ihn. Er hielt ihn nicht einmal eines Worts für würdig. Er wandte sich von ihm ab. Der Vater, den er liebte, den er verehrte, für den er sein eigenes Leben hingegeben hätte.
   Die Mutter seufzte tief auf, als ihr Mann den Raum verlassen hatte. Noch einmal  legte sie ihrem Sohn die Hand auf die Schulter, und fast schien es, als wollte sie ihm über das Haar streicheln. Sanfter als sonst schob sie Pjotr hinaus. Es war nun dunkel, und nach all den Aufregungen sollte er sich ins Bett legen und zu schlafen versuchen. Der nächste Tag würde sicher Besserung bringen. Pjotr nickte abwesend und befolgte den Rat der Mutter.

Während Pjotr mit offenen Augen im Bett lag, nahm sich die Mutter seine Schultasche vor. Das machte sie jeden Tag, denn sie richtete dem Sohn die Sachen für den nächsten Morgen und bereitete Schulbrote zu, die in einer Blechbüchse über Nacht frisch blieben. Wenn Pjotr aus dem Haus ging, war es noch fast Nacht, und da blieb keine Zeit für Frühstücksvorbereitungen. Doch dann hielt sie inne. Morgen? Ohne Fahrrad war Pjotrs Traum zu Ende. Er konnte nicht mehr zur Schule gehen. Oder er musste ins Schul-Internat, aber dann würde seine Arbeitskraft auf dem Hof fehlen. Sie schüttelte den Kopf. Dies war eine Tragödie, für die es keine Wundsalbe gab und die sie mit ihren Fähigkeiten nicht lösen konnte.    
Beim Ausräumen der Schultasche fiel ihr die Klassenarbeit mit dem ausgezeichneten Ergebnis in die Hand. Ach Pjotr, dachte sie. Aus dir hätte doch noch so viel werden können. Aber dann räumte sie alles beiseite. Es war Zeit, das Essen für ihren Mann zu richten.



Das Ende

Nach dem Abendessen fiel der Blick des Vaters auf das Schulheft. Er warf einen Blick hinein, sah die gute Note, las das Lob des Lehrers und lächelte unmerklich, wie immer, wenn er stolz war auf Pjotr. Dann nickte er, als hätte er einen Entschluss gefasst.
Früh am Morgen, der Mond stand noch am Himmel, aber die Sterne waren schon hinter dem hellen Tageshimmel verschwunden, nahm er das Schulheft und ging, seinen Sohn zu wecken. Pjotrs Bett war leer.

Pjotr war nach einer Weile eingeschlafen. Die Schmerzen im linken Arm weckten ihn wieder auf, als er sich im Bett umdrehen wollte. Sein Kopf war heiß und fühlte sich glühend an. Ein wenig Kühlung am Fenster würde gut tun.
Der Himmel war sternenklar, und die volle Mondscheibe sandte ihren tröstenden Schein in die Kammer. Pjotr stand auf und schaute in die lichtdurchflutete Nacht. Das Unglück des Tages zog noch einmal an seinen Augen vorbei, und er dachte daran, dass dieser Mond nun auch sein Fahrrad beschien. Er sah es förmlich da unten liegen. Am Mond-glitzernden Bach, zerschmettert nur durch seine Schuld. Aber vielleicht war es ja nicht ganz und gar kaputt. Vielleicht konnte er es doch noch reparieren. Schließlich hatte er es nur von weit oben gesehen. Vielleicht wartete es auf ihn, und er konnte es retten. Pjotr verfiel in Fieberphantasien, die ihm das Fahrrad vor Augen führten. Komplett erneuert. Glänzend und schön wie in der besten Zeit. Es schwebte vor ihm, zum Greifen nah, und da wusste er, was er zu tun hatte. Mühsam zog er sich an. Sein Mund fühlte sich trocken an, und manchmal wankte er vor Schwäche. Aber er war ein Mann. Er schaffte es irgendwie, die Kleider überzustreifen. Er würde seinen Fehler wieder gut machen. Er wollte ein Mann sein, auf den der Vater wieder stolz sein sollte. Er würde das Fahrrad aus der Schlucht holen und es reparieren. Wenn er sich genug anstrengte, würde er es schaffen. Pjotr machte sich auf den Weg.


Der Vater saß oben am Rande der Schlucht in einer luftleeren Blase. Oder vielleicht war es auch eine Glasglocke, die all die Geräusche von draußen abhielt und deswegen keinen Schmerz zuließ. Jenseits der Glocke sah er die flirrende Luft eines heißen Tages und die tanzenden Insekten über dem Abhang. Ein paar Kleintiere spielten zwischen den Geröllbrocken und wirbelten Staubwolken auf. Ganz unten glitzerte der Bach freundlich. Das Fahrrad lag dort und dicht daneben, mit seltsam verrenkten Gliedern, aber wie in inniger Umarmung, sein Kind, sein Sohn, sein Pjotr. Pjotr, den er gesucht hatte, um ihm zu sagen, dass er sich eine Lösung für die Schule ausgedacht hatte, und dass er sich über die gute Note freute.
Der Vater sah es, aber er nahm es nicht wahr. Alles war lautlos, wie auf einer Kinoleinwand, deren Ton abgestellt worden ist. Damit verlor es den Schrecken und gewann die Dynamik einer anderen Dimension. Eine bessere Welt vielleicht, in der Leid und Schrecken ausgeschlossen bleiben und der Mensch Frieden mit seinen Sinnen und Möglichkeiten schließt.
    Er würde hier sitzen bleiben, und warten, bis Pjotr herauf kam, damit er ihm die gute Nachricht übermitteln konnte. Und sie würden einander ansehen und lächeln.




Anm. von akiva: Mal was anderes zur Abwechslung