[2005-01-31] 
 

Sauerei


Sie sind eine chronische Sauerei, sagte er zu ihr und glotzte über den Rand seines Bierhumpens der schwer in seiner zitternden Hand hing. Seine Stimme klang leicht verwaschen und war im Gemurmel der Kneipe kaum zu hören. Wieder ging die Tür auf. Ein kalter Wind kam herein. Winterwetter draußen. Kälte in ihrem Kopf.
Eine kleine Bewegung in ihrem Gesicht deutete an, dass sie Empörung zeigen wollte. Aber diese erstarb gleich wieder. Das Schwindelgefühl in ihrem Körper ließ keine Empörung zu. Sie hatte genug damit zu tun, sich so unauffällig wie möglich am Tresen festzuhalten. Er sollte ihr Schwanken nicht sehen.  
Sie soffen seit drei Stunden nebeneinander her. Um sie herum stank es nach abgestandenen Alkohol-Lachen und verglimmenden Zigaretten. Wenn die Tür zum Klo aufging, mischte sich noch ein Hauch von Urin und Chemikalien dazu. Eine Mischung, die kein klar denkender Mensch freiwillig inhalieren würde. Aber im Suff ist alles möglich. Sogar, dass ein Mann eine Frau als eine chronische Sauerei beschimpft.
Eine gelallte Beleidigung verliert ihre Schärfe in dem Augenblick, wenn sie zwischen den Lippen herausgepinkelt wird. Das macht es dem Besoffenen so leicht, Dinge zu sagen, die er im nüchternen Zustand noch nicht einmal zu denken wagt. Und sein Gegenüber lässt sich in dieser Situation Verbalinjurien an den Kopf werfen, ohne die geringste Beschädigung davon zu tragen. Das ist die Gnade des Alkohols. Deshalb gibt es so viele Begnadete in unserem Land.
Sie schaute ihn aus geröteten Augen an. Die Rauchschwaden von den Nachbartischen verwischten sein eher feistes Gesicht ganz angenehm. Wenn sie malen könnte, würde sie ihn sich schön malen. Aber leider hatte sie keinerlei Talent und musste sich mit der besoffenen Realität zufrieden geben.
Sie sind ein unverschämtes Schandmaul, wollte sie antworten, aber die Wörter kamen zu schnell für ihre Zunge und verhedderten sich. Sie setzte noch einmal und etwas langsamer an. Ssssie ssssindein Schschsch.... An dieser Stelle hatte sie vergessen, was sie sagen wollte und hob sich ihr Beleidigt-Sein für später auf.
 Chronisch, sagte er, Sie sind einfach chronisch und nahm einen großen, selbstzufriedenen Zug, an dem er sich verschluckte, worauf er einen heftigen Sprühregen aus Bier aushustete.
Wie ein nasser Hund, jedoch in Zeitlupe, schüttelte sie die stinkende Flüssigkeit ab.  Sauerei sagte sie. Eine Sauerei ist das.
Vorübergehend sah er weich und verletzbar aus, aber schon nach dem nächsten Schluck war die Normalität wieder eingekehrt. Was eine Sauerei ist, bestimme immer noch ich, sagte er und versuchte, seinem Blick etwas unwiderstehlich Bestimmendes zu geben. Eine Sauerei ist eine Frau, die hier hockt und sich besäuft! Chronisch...ssseitss los chronisch.. Am seitigsten. Losisch. Chronozeilosisch.... Irgendwie hatte er die Buchstaben durcheinander gebracht und konnte nicht mehr aus dem Gewirr herauskommen.  
Haste einen im Tee?, fragte sie. Mach dir nix draus. Draußen ist es auch nicht besser. Wenn es anfängt zu frieren im Kopf, solltest du nach Hause gehen.
Du bist mit mir nicht per se, per Sie, per Du, meine ich, perdu. Er sah den Worten nach, die da aus seinem Mund hinausfielen. Du? fragte er erstaunt und schaute sie an, als sähe  er sie in diesem Augenblick zum ersten Mal.
Ja, ich. Ich bin Du.
Sie wollte es ihm erklären, aber ihre sprachlichen Fähigkeiten reduzierten sich ebenso zügig wie das Bier in ihrem Glas. Sie nahm einen kurzen Anlauf.
Ww.. Wwweil .. draußen ist es kalt..., aber das sagte sie schon nicht mehr ganz bewusst, denn im nächsten Moment schoss es aus ihr heraus: Mutter Maria, mir wird schlecht.
Ihr Versuch, sich am Tisch festzu halten, scheiterte nun endgültig. Sie kippte einfach um.
   Das Schöne bei Besoffenen ist, dass sie sich fast nie wehtun, wenn sie hinfallen. Sie haben nämlich weder die Zeit noch die Fähigkeit, sich darauf zu konzentrieren, dass sie fallen könnten. Deswegen verkrampfen sie sich nicht und fallen, bis auf ein paar blaue Flecken, weich.  
So hatte sich unsere Gefallene auch sofort auf dem Boden zusammengerollt, als läge sie im Mutterleib und könnte sich in Ruhe in den Schlaf schaukeln. Gerne hätte sie vorher  noch etwas gesagt, aber es fiel ihr schwer, weil die Kotze, die aus ihrem Mund quoll, den Wörtern den Weg versperrte.
Mit stierem Blick starrte er auf sie hinunter. Wer hatte ihn nur in diesen Film mitgenommen? Er suchte vergeblich den Ausschaltknopf, verlor beim Herumfuchteln das Gleichgewicht und stürzte sich über sie. Das Gefühl der angenehmen Weichheit hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn ihr Becken bohrte sich in seinen Magen. Dies wiederum vertrug die dort befindliche Menge Bieres nicht und führte zur vorhersehbaren Kettenreaktion. Kotze zu Kotze.
Einander zugewandt, aufeinander geschichtet, ineinander verdreht fanden sie sich nun in einem Schlaf, der die Welt leichter macht, und die Kälte vergessen lässt. Im Unglück entsteht Einheit.
     So eine Sauerei, sagte der Wirt und holte den Wischeimer.